"Zwischen Musik, Dichtung und bildender Kunst gibt es mancherlei Querverbindungen, mögen diese z.T. auch nur in der Übernahme einiger Begriffe bestehen. So sprechen wir u. a. von Werkbetrachtung und übertragen dabei eine Tätigkeit des Sehens auf das Gebiet des Hörens. Die Formen der Werkbetrachtung reichen von einfachem Anhören musikalischer Kunstwerke bis zur tief eindringenden, genauen Analyse. Was liegt aber näher, als daß wir uns bei Beginn dieser Veranstaltungsreihe mit der Frage des richtigen Hörens befassen.
Man kann von aktivem und passivem Hören sprechen. Das passive Hören wird von vielen Musikfreunden geübt und besteht darin, die Musik nur auf das Gefühl hin wirken zu lassen. Man erwartet von ihr eine seelische Erbauung oder Anregung persönlicher Empfindungen, um sich subjektiven Träumereien und Phantasien hinzugeben.
Kurz gesagt, man will Musik 'genießen'. Mag diese Art zu hören bei leichterer, unterhaltender Musik angebracht und auch bei einzelnen Kompositionen romantischer Haltung noch denkbar sein, so versagt sie jedoch bei allen anspruchsvolleren musikalischen Kunstwerken. Natürlich kann man jede Musik 'genießend' aufnehmen, soll sie aber zu einem künstlerischen Erlebnis werden, verlangt sie eine aktive Mitarbeit des Hörers.
Seelische und geistige Kräfte müssen sich vereinen, um die gehörte Musik als Ganzheit zu erfassen. Dabei gibt es naturgemäß zahlreiche Abstufungen, je nach dem musikalischen Vermögen des Hörers, d.h. nach seiner Musikalität und seinem Vertrautsein mit dem Stoff. Aber Schulung und Erziehung können viel dazu beitragen das Aufnahmevermögen zu steigern. Man mißverstehe das nicht: die seelische Beteiligung am Hören ist keineswegs unwichtig oder gar überflüssig, aber sie kann auf die geistige Mitarbeit nicht verzichten.
Das bewußte Musikhören erscheint somit als ein recht komplizierter Vorgang und ist es tatsächlich auch. Bedeutende Musiker haben erkannt, was wichtig für ein richtiges Hören ist, sie fordern vom Hörer, daß er die Musik in ihrer Sprache zu verstehen lernt. Hans von Bülow spricht von Grammatik, Synthese und Logik der Musik, die gehört sein wollen, um verstanden zu werden. F. Busoni sagt: 'Um ein Kunstwerk zu empfangen, muß die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden'. Igor Strawinsky schreibt in seinen Erinnerungen:'In der Musik gelangen nur diejenigen zum wahren Verständnis, die sich tätig anstrengen. Eine rein passive Aufnahme genügt dazu nicht'. Und Robert Schumann, der Romantiker, sagt:'Wer den Künstler erforschen will, besuche ihn in seiner Werkstatt'. Er spricht von Werkstatt und nicht etwa von poetischen, seelischen und außermusikalischen Dingen. Wird das Hören so zu einem wirklich musikalischen Vorgang, muß man fragen: Wie soll sich nun diese geistige Aufnahme eines Werkes vollziehen?
Erfaßt werden muß die Bedeutung der einzelnen Themen, ihre melodisch-rhythmische Substanz, ihr motivischer Aufbau und ihre charakteristische Klangfarbe. Die einzelnen kleinen Bestandteile, die Motive, müssen zu Themen und Phrasen zusammenwachsen, diese zu Formgruppen und diese wiederum zu Satzteilen und ganzen Sätzen gefügt werden, also die Einzelheiten in die Ordnung des Ganzen eingebaut werden. Das Endergebnis ist dann die vom Komponisten erdachte Ganzheit des Kunstwerkes, die somit erst bewußt in Erscheinung tritt. Um dieses Idealziel zu erreichen, ist die analytische Beschäftigung mit dem Kunstwerk notwendig und nicht zuletzt das mehrfache Hören desselben.
Aus alledem ergibt sich die Forderung nach einer intensiven musikalischen Laienbildung, sowohl in allgemeiner Hinsicht - denn eigenes Musizieren gehört immer noch zu den besten Mitteln der Hörerziehung - als auch in spezieller Hinsicht, d.h. in der Vorbereitung auf künstlerische Hör-Erlebnisse.
Eine wichtige Voraussetzung für positives Hören ist die richtige Einstellung zum Werk. Man muß wissen, was die betreffende Komposition aussagt, ob es sich bei ihr um die Darstellung eines rein musikalischen Vorgangs handelt (absolute Musik) oder ob außermusikalische Einflüsse und Vorstellungen bei der Gestaltung des Werkes eine Rolle gespielt haben (Programmusik und absolute Musik mit programmatischem Charakter). Im zweiten Falle gibt der Komponist meist durch eine Überschrift bekannt, in welche Richtung die Phantasie des Hörers gelenkt werden soll. Weiterhin muß man das klangliche Gewand und die stilistische Haltung des Werkes kennen, die Entstehungszeit desselben und deren geistige und musikalische Haltung, evtl. auch die Ursache, die zur Komposition geführt hat.
Wie oft gibt es Mißverständnisse beim Hören, weil diese Einstellung nicht vorhanden ist, indem die Grundidee des Werkes nicht erschlossen ist, die Neuartigkeit eines Werkes verwirrt oder aber der Komponist befindet sich in einer anderen Epoche seines Schaffens, wodurch das Bild seiner künstlerischen Persönlichkeit anders als gewohnt erscheint. Das Wissen um diese Dinge ist also notwendig für das verständnisvolle Aufnehmen einer Komposition. Bei der Analyse muß, von der zyklischen Einheit eines Werkes ausgehend, zu der Detailarbeit der einzelnen Teile und Sätze vorgedrungen werden. Es muß bei der Einführung klar werden, wie aus Keimen ganze Formen wachsen und umgekehrt, wie die Ganzheit eines Themas in Einzelheiten aufgelöst werden kann, in denen wiederum neue Kunstwerke stecken. Je nach Art und Umfang der Werkbetrachtung handelt es sich um eine kurze Einführung in den Geist und die Besonderheiten eines Werkes - oft genügen schon ein paar treffende und charakterisierende Sätze, um die geforderte Einstellung beim Hörer zu schaffen - oder um eine mehr oder weniger große, genaue Analyse.
Ein wichtiger Punkt der richtigen Einstellung zum Werk bedarf noch besonderer Erwähnung: das Hören der sog. 'alten' und 'neuen' Musik. Da die Mehrzahl der Musikfreunde in erster Linie noch immer dem klassisch-romantischen Musikideal zugetan ist, stößt sowohl das Hören der vorklassischen als auch der zeitgenössischen Musik oft auf Schwierigkeiten. Denn die stilistische und kompositionstechnische Verschiedenheit dieser Musikzeiträume gestattet keine Werkaufnahme unter den gleichen Hörbedingungen. Man muß sich also vor dem Hören darüber klar sein, daß man nicht die von der klassisch-romantischen Musik her gewohnten Klangbilder zu hören bekommt, sondern wesentlich davon abweichende.
Während nun zwischen der Barockmusik und der aus Klassik und Romantik nur ein Unterschied in der geistigen Haltung und der Ausdrucksweise besteht, die Grundlagen der Tonsprache aber die gleichen sind - nur graduell, d.h. entwicklungsmäßig verschieden -, haben sich diese bei der neuen Musik vollkommen verändert. Auch die nicht kadenzbezogene alte Musik der vorbarocken Zeit gibt dem Durchschnittshörer mancherlei Nüsse zu knacken. Man kann sich gut vorstellen, daß die Gewöhnung des Ohres für das Verständnis der gehörten Musik eine große Rolle spielt, wenn man bedenkt, daß ein gewaltiger Schatz klanglicher Erscheinungen in unserem Erinnerungsvermögen aufbewahrt wird. Je mehr Bekanntes oder diesem Ähnliches gehört wird, umso leichter geht uns ein Werk ein und je mehr neuartiges, unbekanntes und ungewohntes auftritt, umso schwieriger gestaltet sich die Aufnahme des Gehörten. Hören und immer wieder hören und sich damit beschäftigen macht aber auch schließlich die scheinbar sprödeste Klangmaterie unseren Ohren gefügig. Vorausgesetzt, daß man den guten Willen dazu mitbringt und nicht von vornherein alles, was man nicht gleich versteht, einfach ablehnt.
Paul Hindemith nannte kürzlich bei einem Diskussionsgespräch das Mißverhältnis zwischen der Neuen Musik und dem von der Klassik her gebildeten Hörer 'die enttäuschte Erwartung', denn es kommt ja schließlich viel darauf an, was man von einer Musik erwartet, sowohl geistig als auch klanglich. Entspricht diese den Vorstellungen nicht, so bleibt eben eine Enttäuschung zurück. Das beste Mittel dagegen ist, universell zu sein, über den Stilen und Richtungen zu stehen, zu versuchen, jeder Musik gerecht zu werden und sich nicht einseitig festzulegen. Genauso einseitig sind auch die Hörer, die nur eine bestimmte Musikgattung anerkennen und sich für keine andere interessieren. Das ist nicht nur engstirnig, sondern ungeistig und unkünstlerisch.
Musik - das muß immer wieder betont werden - ist eine Ganzheit, sowohl in ihrem geschichtlichen Ablauf als auch in der Vielgliedigkeit unseres Musiklebens und im einzelnen Werk".