LogoHeinz Irsen

"Musikerziehung als Bildungsaufgabe"

Vortrag von Heinz Irsen, gehalten in der Feierstunde aus Anlaß der Eröffnung des "Konservatoriums der Stadt Siegburg" am Samstag, den 2. Oktober 1948 in der Aula des Siegburger Gymnasiums:

"Blicken wir um uns in den Alltag, so sehen wir allenthalben, wie unser Leben zur Zeit von einem harten Daseinskampf erfüllt ist, der die Kräfte für die geistige Arbeit zu ersticken und aufzuzehren droht. Diese bedauerliche Erscheinung ist zeitbedingt. Kulturelles Leben entfaltet sich erst auf einer Ebene, die jenseits der alltäglichkeit liegt. Den großen geistigen Besitz unseres Volkes aber vernachlässigen oder gar aufgeben, wäre gleichbedeutend mit dem Verlust aller kulturellen Werte, deren wesentlicher Faktor das musische Element und in besonderem Maße die Musik ist. Hier stehen der Musikerziehung große Aufgaben bevor, denn die heute zu Erziehenden sollen ja die künftigen Träger der musikalischen Kultur sein. Nun befinden wir uns in einer seelischen Situation, die - hervorgerufen durch die äußeren Lebensumstände - bei einem großen Teil der Jugend einen Widerstand gegen die kulturellen Kräfte aufkommen ließ. Die entstandenen Zweifel lassen sich nur durch eigene Erfahrung beseitigen, d.h. die Jugend muß in erster Linie wieder zum 'Musikerlebnis' geführt werden. Erst dann, wenn sie die lebensbejahende Kraft der Musik an sich selbst gespürt hat, wird sie ihre Skepsis überwinden. Die heutige Musikerziehung muß auch bestrebt sein, den jungen Menschen die Fähigkeit wiederzugeben, außer dem 'Selbstmusizieren' 'zuhören' zu können, um auf diese Art gleichfalls an den Schöpfungen der Musik Anteil nehmen zu können. Jede Zeit schafft sich ihre eigenen Lebensformen und -gesetze und dazu wird auch stets die Musik gehören als der künstlerische Ausdruck ihrer Haltung und ihres Wollens.

In den vielfältigen Strömungen des Musiklebens stellt die Musikerziehung ein selbstständiges Teilgebiet dar. An sie werden große Forderungen gerichtet: einerseits ist es ihre Aufgabe, den Nachwuchs für den musikalischen Beruf zu schulen in der ganzen Vielfalt seiner Erscheinungsformen, also für die schöpferische Tätigkeit, für Konzert und Bühne, Kirche und Pädagogik; andererseits liegt ihr die Verpflichtung ob, für die Bildung eines guten musikalischen Laienstandes zu sorgen, der die nötige Aufnahmebereitschaft für das Kunstwerk besitzt. Denn was nützen die größten und schönsten Meisterwerke, was die beste Interpretation, wenn nicht ein verständiges Publikum vorhanden ist, das diese Leistungen zu würdigen weiß und sich von ihnen geistig angeregt fühlt.

In der Hand des Musikerziehers liegt es auch, die Verbindung von Alt und Neu herzustellen, das große Gut der Vergangenheit zu pflegen und den Boden zu bereiten, auf dem die musikalische Sprache der Gegenwart gedeihen kann. Denn es gilt den Blick zu weiten über die historischen Klangformen und Stile hinaus für die Gesamtheit der Musik und damit auch die Werke unserer zeitgenössischen Komponisten zu einem wesentlichen Bestandteil des Musiklebens werden zu lassen. Wenn dies nicht gelingt, treten wir auf der Stelle oder bewegen uns rückwärts, wozu unsere historisch eingestellte Musikpflege leicht führen kann.

Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, ist die Umwandlung unserer Schule zu einem Konservatorium von großer Bedeutung. Die beiden an die Musikerziehung gestellten Hauptforderungen - die Ausbildung des Berufsmusikers und die Schulung des Musikliebhabers - werden wir nunmehr als zwei gleichwichtige Zweige behandeln können. Die Jugend möglichst frühzeitig mit der Musik in Berührung zu bringen, den Musikfreund für ihre Werte aufgeschlossen zu machen erscheint uns als Aufgabe ebenso bedeutsam, wie die andere, dem beruflich studierenden das notwendige handwerkliche Rüstzeug zu vermitteln, ihm zu selbstständigem musikalischen Denken und Fühlen zu erziehen und ihn über den Rahmen seines Spezialistentums hinaus zu einer umfassenden musikalischen Bildung zu bringen.

Künstlerische Leistung und pädagogisches Wirken brauchen zu ihrem Gelingen den festen Boden äußerer Sicherheit und Ruhe und so bitten wir Sie: Helfen Sie uns durch Ihre Anteilnahme und Unterstützung die Erwartungen zu erfüllen, die wir in unsere Arbeit setzen, damit wir auch unseren Teil zu der großen Aufgabe aller heutigen Kultur beitragen können, die Menschen zu einer neuen Verinnerlichung zu führen. Möge unserem Wirken ein schöner Erfolg beschieden sein".


1994, Dietmar Högen
1999-04-29, HTML-Fassung durch Werner Icking (1943-2001)
2020-01-26, Christian Mondrup, Werner Icking Music Archive